Historische Hintergründe

Mehr als 300 Jahre dauerte die Wanderung der Schwabengänger

Kinder zwischen 6 und 14 Jahren, die aus dem Alpenraum kamen, wanderten nach Oberschwaben, um dort während des Sommers Arbeit zu finden und damit ihre Familien zu unterstützen.

Auswanderung aus dem Alpenraum Chronologie der Schwabengängerei Gründe für die Auswanderung Ziel der Schwabenkinder Schulpflicht Konfessionelle Gründe

Auswanderung aus dem Alpenraum

Jahrhunderte lang prägte die saisonale oder dauerhafte Auswanderung von Erwachsenen oder ganzen Familien aus den Alpen nach Oberschwaben die betroffenen Regionen: Die gezielte Anwerbung von Schweizer oder Vorarlberger Siedlern nach dem Dreißigjährigen Krieg, als große Teile Oberschwabens durch die Kriegsfolgen entvölkert waren, genauso wie saisonale Arbeitskräfte aus den Alpen. Deren Spuren in Oberschwaben sind manchmal augenfällig, in anderen Fällen kaum nachzuweisen. Vom Sesshaftwerden der Siedler aus dem Rheintal im 17. Jahrhundert zeugen die sogenannten Rheintalhäuser.

Die Neuankömmlinge brachten den Baustil ihrer Heimat mit nach Oberschwaben. Auch die barocken Baumeister aus dem Bregenzerwald, die zeitlich beschränkt in der Fremde tätig waren, haben sich und ihrer Baukunst in ganz Oberschwaben bedeutende Denkmäler gesetzt. Auf Hinterlassenschaften anderer Auswanderer wie der Krauthobler aus dem Montafon oder saisonaler Hilfskräfte in der Landwirtschaft wie die Schwabenkinder, trifft man trotz ihrer großen Zahl nur selten. Über Generationen hinweg war es für viele Familien in den Alpengebieten fester Bestandteil des Alltags, dass erwachsene Familienmitglieder während des Sommers oder gar für mehrere Jahre in der Fremde ihren Lebensunterhalt verdienten.

Chronologie der Schwabengängerei

Der erste schriftliche Beleg für eine Kinderwanderung reicht ins Jahr 1625 zurück. Johann Conrad Kostner, Verwalter auf Schloss Bludenz, berichtete an die Regierung in Innsbruck: „wol ziehen alle Jahr zu Frühlingszeiten viel Kinder auf die Hüt nacher Ravensburg, Überlingen und ins Reich hin und wieder, welche aber vor und nach Martini zu Hause kommen.“ Ihren Höhepunkt erreichte die Kinderwanderung erst Anfang des 19. Jahrhunderts, als vermutlich einige Tausend Kinder aus den Alpen nach Oberschwaben kamen. Schätzungen gehen von über 4000 Kindern jährlich aus. 1836 berichtet eine Quelle, dass im Montafon bekanntlich die halbe Bevölkerung zeitlich auswandere und spricht von 700 Kindern, die allein aus diesem Tal jedes Jahr über den Sommer auswandere. Ab 1850 sanken die Zahlen und um 1900 zogen aus Tirol und Vorarlberg noch etwa 800 Kinder jährlich nach Oberschwaben. Besonders der Ausbruch der 1. Weltkrieg 1914 stellte in dieser Hinsicht eine Zäsur dar. Er setzte den Wanderungen aus Tirol, Graubünden und Liechtenstein ein Ende. Allein die Saisonarbeit der Schwabenkinder aus Vorarlberg setzte sich in den 1920er-Jahren mit jährlich etwa 200 Kindern fort. Die unorganisierte Form der Schwabengängerei dürfte vereinzelt bis in die Jahre des 2. Weltkriegs und die unmittelbare Nachkriegszeit angedauert haben.

Gründe für die Auswanderung

Die Schwabenkinder kamen fast alle aus kinderreichen Familien, denen das Nötigste zum Leben fehlte. In den Herkunftsregionen der Schwabenkinder wurde im Erbfall meist die Realteilung praktiziert – mit schwerwiegenden sozialen und ökonomischen Folgen. In der Landwirtschaft führte die fortgesetzte Realteilung zu einer Aufsplitterung des Ackerlandes in eine Vielzahl kleiner Äcker. Diese brachten kaum Ertrag und ein relativ hoher Anteil der nutzbaren Fläche ging für Grenzstreifen und Zufahrtswege verloren. Gerade der im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert aufgrund der Fortschritte im Gesundheitswesen vermehrt auftretende Kinderreichtum barg in Zusammenhang mit der Realteilung ein hohes Armutsrisiko in sich. Zahlreiche Familien waren verschuldet und die Folgen von Naturkatastrophen oder Kriegen verschärften diese Krisensituation drastisch. Staatliche Maßnahmen z.B. Ehebeschränkungen blieben nahezu wirkungslos. Das Zusammenwirken der Folgen von Überbevölkerung, Kleinbesitz und Armut blieb über Jahrhunderte wirksam und verhinderte eine spürbare Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation.

Alternativen zur Auswanderung gab es kaum, denn aufgrund der geographischen Lage in den engen Alpentälern entwickelte sich Handel und Industrie relativ spät. Erst Ende des 19. Jahrhunderts entstanden Arbeitsplätze im großen Stil durch den Eisenbahnbau, die den Rückgang der saisonalen Arbeitsauswanderung bewirkte.

Ziel der Schwabenkinder

Das ländlich strukturierte Oberschwaben war traditionell eher gering besiedelt. Das herrschende Erbrecht, das die ungeteilte Übergabe des Besitzes an einen der Söhne vorschrieb, begrenzte die Heiratsmöglichkeiten. Denn heiraten durfte nur, wer einen eigenen Hof besaß. Gleichzeitig bildete dieses sogenannte Anerbenrecht auch die Grundlage für den wirtschaftlichen Wohlstand. Die auf diese Weise entstandenen großen Höfe benötigten zwar viele Arbeitskräfte, konnten dadurch aber einen Überschuss produzieren, der exportiert wurde. Oberschwaben wurde so im 19. Jahrhundert zur Kornkammer der Schweiz und Vorarlbergs. Zeitgleich setzte sich im 18. und 19. Jahrhundert in Oberschwaben die sogenannte Vereinödung durch, gemeint ist die Zusammenlegung aller Felder eines Hofes. Dadurch entstanden eine Vielzahl an kleinen Weilern und Einzelhöfen, auf denen viele Hirten benötigt wurden. Zuvor wurde der Viehtrieb von der Dorfgemeinschaft zusammen organisiert. Da es dafür in der Region nicht genug ländliche Hilfskräfte gab, griff man in großer Zahl auf die saisonalen Arbeiter aus Tirol und Vorarlberg zurück.

 

Schulpflicht

Dieses System ausländischer Kinderarbeit konnte nur funktionieren, solange es die Schulgesetze mit trugen. Das württembergische Volksschulgesetz von 1836 schrieb die tägliche Schulpflicht für württembergische Kinder von 6-14 Jahren fest. Seit 1878 galt dies auch für alle sich in Württemberg aufhaltenden deutschen Kinder. Nicht davon betroffen waren jedoch die ausländischen Kinder, die dadurch an wirtschaftlichem Wert gewannen.


In Österreich bestand wurde die Schulpflicht bereits 1776 eingeführt. Jedoch konnten die Heimatgemeinden den Kindern bedürftiger Familien für Dauer der Auswanderung einen „Dispens“ (Befreiung) von der Schulpflicht gewähren. Versuche, die Schulpflicht zu umgehen, beispielsweise mit Reisepapieren, die gefälschte Altersangaben enthielten, wurden nicht nur von den Betroffenen initiiert, sondern auch von Behörden oder anderen Amtspersonen. Diese Vergehen wurden bestraft, mit Blick auf die Not der Familien aber oftmals auch Nachsicht geübt. Das zeigen die Zahlen: 1870 wurden fast 3000 Kinder in Vorarlberg von der Sommerschule befreit, viele gingen nach Oberschwaben, andere gingen in Dornbirn in die dort bereits bestehenden Stickereien und Textilfabriken. Der fehlende Schulunterricht über einen Zeitraum von 7 Monaten und die damit verbundenen Nachteile wurden von vielen ehemaligen Schwabenkindern als prägend empfunden. Der Konflikt zwischen dem Bedürfnis im Sommer Arbeit im Ausland zu leisten und der Pflicht die Schule zu besuchen blieb während der gesamten Zeit der Schwabengängerei unverändert bestehen.

Konfessionelle Gründe

Die Konfession spielte sowohl bei den Bauern als auch bei den Schwabenkindern eine bedeutende Rolle. Die Schwabenkinder stammten aus katholischen Gebieten, gleichermaßen waren die Zielgebiete Oberschwaben und Allgäu katholisch geprägt. So ist es auch zu erklären, dass trotz der geographischen Nähe keine Kinder aus bedürftigen Familien aus dem evangelischen württembergischen Unterland, der Schwäbischen Alb, eingestellt wurden. Hingegen kamen Kinder aus dem aus den weit entfernten, romanisch sprechenden Teilen Graubündens, die ebenfalls vorwiegend katholischen waren. Bei den Familien der Schwabenkinder wurde darauf geachtet, dass die Kinder nicht mit einer anderen Glaubenlehre in Verbindung kamen. Bei den oberschwäbischen Bauern schien daher der Besuch der Sonntagsmesse und der Christenlehre gewährleistet.